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Barrierefreiheit für Verlage – 100.000 € Strafe oder Freibrief?

Am 28 Juni 2025 tritt das BFSG (Barrierefreiheitsstärkungsgesetz) in Kraft. Während sich öffentliche Stellen – und deren Dienstleister und Lieferanten – schon seit längerem mit dem Thema Barrierefreiheit im Internet und dem BGG – Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen auseinandersetzen, kommt nun das erste Gesetz, das auch private Unternehmen zur Einhaltung verschiedenster Barrierefreiheitsstandards auf Ihren Onlinekanälen, Dienstleistungen und Produkten verpflichtet. Doch was bedeutet dies für Verlage? Und betrifft es überhaupt alle Verlage? Zeit für uns, etwas mehr Licht in die Thematik „Barrierefreiheit“ zu bringen.

Warum ist die Umsetzung der Barrierefreiheit wichtig?

Eigentlich ergibt sich die Antwort von selbst: weil es das Richtige ist. Punkt.

Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch die Möglichkeit erhalten soll, sich umfassend und gleichberechtigt an der Gesellschaft zu beteiligen. Die Teilhabe darf nicht von Faktoren wie individuellen Fähigkeiten, ethnischer Herkunft, Geschlecht oder Alter abhängen. Vielfalt wird als normal vorausgesetzt. Daher müssen Strukturen geschaffen werden, durch die sich alle Menschen unabhängig von unterschiedlichen Voraussetzungen einbringen können.(1)

Das gilt für die Mobilität ebenso wie für den Zugang zu Informationen im Internet. Allen, die nun die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und über den „riesigen Aufwand“ für eine „Minderheit“ klagen, seien folgende Statistiken nahegelegt:

  • Im Jahr 2022 lebten in Deutschland 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen (Behinderungsgrad über 50%). Dies bedeutet fast jede zehnte Person gilt als schwerbehindert.(2)
  • Nur rund 3 % der Behinderungen waren angeboren. 90 % der Behinderungen entstanden durch Krankheiten.(2) Es kann also jeden treffen. Und der demografische Wandel trägt sein Übriges dazu bei, denn „die Wahrscheinlichkeit, schwerbehindert zu sein, steigt mit zunehmendem Alter stark an.“(3)

Zusätzlich gilt es festzuhalten: Barrierefreiheit für alle Nutzer gut. Einschränkungen in der digitalen Nutzung kann es auch durch zum Beispiel einfallendes Sonnenlicht auf den Bildschirm, den Geräuschpegel in Großraumbüros oder andere Nutzungskontexte geben. Gut lesbare Texte helfen jedem Nutzer / Menschen.

Es ist also höchste Eisenbahn, das Thema Barrierefreiheit anzugehen.

Der politische Wille ist (endlich) da

Kürzlich äußerte sich Bundeskanzler Olaf Scholz zur Novellierung des BGG und stellte fest, dass diese „schnellstmöglich auf den Weg gebracht wird“.(4) Einhergehend sind auf Basis des Koalitionsvertrages Verschärfungen der Regeln und eine Ausweitung auf weitere Produkte und Dienstleistungen zu erwarten (8). Damit sollen künftig auch Unternehmen, die nicht jetzt schon durch die Teilnahme am Markt für öffentliche Verwaltungen oder die Beschäftigung von Schwerbehinderten dem BGG unterliegen, verpflichtet werden, Produkte und Dienstleistungen barrierefrei anzubieten. Mit dem BFSG setzt die deutsche Regierung europäische Beschlüsse zur Barrierefreiheit um und schlägt in die gleiche Kerbe.

Zweck dieses Gesetzes ist es, im Interesse der Verbraucher und Nutzer die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen nach Maßgabe (…) zu gewährleisten. Dadurch wird für Menschen mit Behinderungen ihr Recht auf Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gestärkt und der Harmonisierung des Binnenmarktes Rechnung getragen.(5)

Deutschland befindet sich bei der Gesetzgebung auf dem richtigen Weg. Allerdings lässt ein UN-Bericht aus 2023 aufhorchen, der im Moment noch deutliche Defizite, darunter „das Fehlen einer systematischen Überprüfung der bestehenden Gesetze, Politikvorgaben und Vorschriften“, feststellt.(6)

Tipp: Testen Sie Ihre Online-Präsenz auf Barrierefreiheit

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Was bedeutet dies für Verlage?

Konzentrieren wir uns zuerst auf das BFSG und eine der zentralen Forderungen: Die elektrische Fassung eines Buches und die bereitstellende Software muss lesbar sein. Dies bedeutet, neu erscheinende E-Books und deren Leseumgebung müssen künftig den Standards der Barrierefreiheit genügen. Auch digitale Fachinformationsprodukte, wie wir sie z.B. mit unserer Xaver Publishing Platform implementieren, müssen die Standards für Barrierefreiheit erfüllen. Der Gesetzgeber bezieht sich bislang allerdings nur auf den B2C-Bereich. Bietet ein Verlag seine Bücher nur B2B an oder bietet er nur Zeitschriften und Zeitungen an, betrifft ihn das Gesetz noch nicht. Auch Kleinstunternehmen mit weniger als 10 Mitarbeitern, weniger als 2 Mio. € Umsatz und reinem Dienstleistungsangebot sind ausgenommen. Um es kurz zu machen: haben Verlage einen privat nutzbaren Onlineshop, vertreiben Sie Bücher auf Plattformen, die Privatpersonen den Kauf ermöglichen oder bieten Sie Bücher als eBook oder lesbare andersartige elektronische Fassung an, so greift das BFSG.

Beim BGG ist es schwieriger, eine Aussage zu treffen. Sollte der Gesetzgeber viele der Regeln für öffentliche Stellen auf den privaten Anbieter umlegen, so dürften sich die Anforderungen im Bereich B2C weiter erhöhen.

Was bedeutet dies wirklich für Verlage?

Wie immer liegt das Problem bei Gesetzen in der Interpretation bzw. der noch fehlenden Interpretation durch die Gerichte. Und beim BFSG gibt es viel zu interpretieren.

  • Bei der Begriffsbestimmung für „Verbraucher“ besteht Spielraum ab wann ein Verlag nur B2B oder doch auch B2C veröffentlicht.
  • Schafft die Anpassung an die Barrierefreiheit eine „wesentliche Änderung eines Produkts oder einer Dienstleistung“, so kann von der Anpassung abgesehen werden. Doch ab wann erfährt ein Buch in einer digitalen Fassung eine wesentliche Änderung?
  • Bedeutet die Umstellung auf Barrierefreiheit eine unverhältnismäßige Belastung? Trifft dies zu, kann von der Pflicht abgesehen werden. Hier gilt es die Nettokosten der Barrierefreiheitsmaßnahmen den Gesamtkosten der Herstellung gegenüberzustellen. Einen genauen prozentualen Wert nennt das Gesetz aber nicht.

Verlage befinden sich also in einer unangenehmen Situation. Zum einen tritt ein Gesetz in Kraft und zum anderen sind die Anforderungen und Ausnahmen teils nicht scharf genug skizziert. Hilfe bietet ab 2025 die Bundesfachstelle Barrierefreiheit, die damit beauftragt ist Unternehmen bei der Umsetzung des Gesetzes zu unterstützen.

Was bedeutet dies wirklich, wirklich für Verlage?

Neben der ethischen Verpflichtung, kommen nun mehr und mehr gesetzliche Verpflichtungen, die die Umsetzung von Barrierefreiheit einfordern. Aus unserer Sicht gibt es zwei mögliche ausgeprägte Szenarien für die nächsten Jahre.

  • Szenario 1: Abmahnwellen
    Mit Eintritt des neuen Gesetzes haben dritte Parteien die Möglichkeit die Marktüberwachungsbehörde aufzufordern, gegenüber Unternehmen mit mangelnder Barrierefreiheit tätig zu werden. Findet keine Verbesserung statt, besteht die Möglichkeit einer Klageerhebung und es drohen Bußgelder bis in Höhe von 100.000 €. In einer ersten Welle nutzen vor allem Betroffenenverbände die Chance und lassen z.B. die großen Online-Shops überprüfen, bei denen laut einer aktuellen Studie noch großes Verbesserungspotenzial liegt.(7) Kurz danach folgen mittlere und kleinere Unternehmen. Nach den ersten Bußgeldern für Verlage bricht Panik unter den Verlegern aus und purer Aktionismus führt zu halbgaren Lösungen und viel verbranntem Budget.
  • Szenario 2: Die Mühlen der Justiz mahlen langsam
    Mit Eintritt des neuen neuen Gesetzes sind alle Beteiligten komplett überfordert. Abmahnungen ziehen sich in die Länge, da die zuständigen Behörden und Gerichte selbst mit der Formulierung des Gesetzestextes hadern und eine Linie zur Umsetzung suchen. Große Online-Shops entziehen sich mit advokatischen Winkelzügen einer tiefgreifenden Umsetzung der Barrierefreiheit. Verlage schauen sich das Spektakel an und vertrauen auf das kölsche Sprichwort: et hätt noch immer jot jejange.

Die Wahrheit liegt wahrscheinlich wie immer in der Mitte. Eines steht aber fest: Verlage müssen sich mit dem Thema Barrierefreiheit befassen und diese umsetzen. Ähnlich zur DSGVO gibt es anfangs Unsicherheiten, doch nach einigen Jahren gehört die Barrierefreiheit zum normalen Geschäftsalltag dazu.

Barrierefreiheit hat Vorteile

Alle Verlage, die sich frühzeitig um die Barrierefreiheit von Software, Websites, E-Books etc. kümmern, haben echte Wettbewerbsvorteile. Aus unserer Sicht stechen vier besonders hervor:

  • Bessere Produkte und bessere Nutzererfahrung
    Barrierefreiheit und UX gehen Hand in Hand. Wird eine Nutzeroberfläche barrierefrei gestaltet. steigt die Nutzerfreundlichkeit für alle Personen, egal ob mit oder ohne Behinderung. Gleiches gilt für digitalen Content wie eBooks. Und je besser die Nutzerfahrung, umso besser sind Erfahrungsberichte, Kundenzufriedenheit, Wiederkaufverhalten, Cross-Selling, …
  • Erfüllen von Kunden-Anforderungen
    Je stärker die Verpflichtung zur Barrierefreiheit bei institutionellen oder privatwirtschaftlichen Verlagskunden besteht, umso stärker werden diese Ansprüche an die Verlage weitergereicht. So halten viele öffentliche Bibliotheken die Anforderungen für barrierefreie Produkte in öffentlichen Verwaltungen nicht nach und akzeptieren auch nicht barrierefreie Bücher. In Zukunft ist hier mit einer verschärften Haltung gegenüber den liefernden Verlagen zu rechnen. First Mover erhöhen Ihre Chancen, Kunden zu halten und neue Kunden zu gewinnen.
  • Gesteigerte Reichweite
    Zum einen ist Barrierefreiheit ein Rankingfaktor für Suchmaschinen. Die verbesserte Position bei den SERPs (Search Engine Result Pages) korrespondiert mit mehr Aufrufen. Zum anderen erweitern Sie Ihre Kundengruppe um alle Personen, denen der Zugang zu Ihren Produkte und Dienstleistungen zuvor erschwert war.

Fazit

Die Hausaufgaben stehen seit langem fest. Nun ist die Zeit da, diese auch zu machen. Dafür sorgt nicht zuletzt der Gesetzgeber. Alle Verlage, die sich frühzeitig mit dem Thema Barrierefreiheit beschäftigen, können sich Wettbewerbsvorteile sichern und verhindern gleichzeitig, in den Sog von Abmahnwellen zu kommen. Und nicht zu vergessen: es ist das Richtige zu tun.

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Quellen

(1) https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/diskriminierungsmerkmale/behinderung-und-chronische-krankheiten/behinderung-und-chronische-krankheiten-node.html

(2) https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/06/PD22_259_227.html

(3) https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61823/schwerbehinderte/

(4) https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/scholz-barrierefreiheit-reform-100.html

(5) https://bfsg-gesetz.de/1-bfsg/

(6) https://www.lebenshilfe.de/fileadmin/Redaktion/PDF/2_Informieren/Abschliessende_Bemerkungen_VN_BRK_DEU_3.10.2023.pdf

(7) https://delivery-aktion-mensch.stylelabs.cloud/api/public/content/aktion-mensch-testbericht-barrierefreiheit-webshops-2024?v=3f968466

(8) https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf

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